Lyotard Postmoderne

Das am weitesten reichende und für uns aktuellste Ergebnis seiner Denkmethode hatte Bataille bereits 1949 mit dem Entwurf einer Allgemeinen Ökonomie vorgelegt, die unter dem befremdenden Titel La part maudite (Der verfemte Teil) erschienen war und im Deutschen unter dem Titel Die Aufhebung der Ökonomie mit zwei verwandten Schriften zu dem 1. Band des theoretischen Werkes zusammengefaßt wurde, der 1975 bei Rogner & Bernhard erschien. Auf noch folgenreichere Weise war es hier gelungen, aus unserer kapitalistischen Gesellschaft gleichsam herauszuspringen und von außen phänomenologisch Grundstrukturen zu erfassen, die von innen nicht erkennbar waren, weil sie verdrängt und verschüttet wurden. Indem er, die kapitalistische Ökonomie nicht-kapitalistischen Ökonomien konfrontierend, die ökonomische Tätigkeit allgemein mit dem globalen Vorgang der Energieerzeugung und Energieabgabe des organischen Lebensprozesses in Zusammenhang brachte, erkannte er dessen Grundstruktur auch als die der Ökonomie: Jedes Lebewesen verfügt über mehr Energie, als zu seiner Selbsterhaltung und Fortpflanzung nötig ist. Sind die Grenzen des Wachstums und der Reproduktion erreicht, muß die überschüssige Energie ohne Nutzen verschwendet werden. Das gilt in verstärktem Maße für die ökonomische Tätigkeit des Menschen. Denn da diese nichts andres als die Erzeugung und Nutzung zusätzlicher Energie zur Steigerung von Wachstum und Reproduktion ist, ist zwangsläufig auch ein größerer Teil überschüssiger Energie nutzlos zu verschwenden. Diese Aussage steht in diametralem Gegensatz zum Grundgesetz der Industriegesellschaften. Für sie ist Produktion und Wachstum unangefochten der höchste Wert und eigentliche Zweck der Ökonomie, während Konsum und Reproduktion nur deren Mittel bildet und alles, was keinen Profit bringt, verfemt wird, der verfemte Teil der Ökonomie ist. Bataille dagegen hatte entdeckt, daß für viele Kulturen, entsprechend dem Grundgesetz von der notwendigen Verschwendung überschüssiger Energie, gerade die Verschwendung höchster Wert und eigentlicher Zweck ist, dessen Mittel die Produktion nur bildet. Heilig ist daher alles, was durch Opferung, Zerstörung, Schenkung, Erhaltung unproduktiven Lebens, Errichtung unproduktiver Monumente aus der Zweck-Mittel-Beziehung, aus dem Produktions- und Konsumtionszirkel herausgerissen werden kann. Er zeigte das an drei besonders ausgeprägten Beispielen: am skandalösen Menschenopfer der Azteken, am ruinösen Rivalitätsgeschenk der Indianer (potlach) und am unproduktiven Mönchswesen des lamaistischen Tibet. Damit belegte er seine Überzeugung, daß die willentliche und durch Regeln geheiligte Verschwendung das Wesen des Menschen ausmache. Denn solange der Mensch nur seine Reproduktion sichere, unterscheide er sich nicht vom Tier. Seine Souveränität und Selbstverwirklichung finde er erst, wenn er den mit Schrecken wahrgenommenen Verschwendungsprozeß des Lebens, den das Tier nur erleidet, in einer bewußten Verschwendungsorgie übertrumpfe. Es ist deutlich, daß das eine intimere Verdammung der nach dem Rentabilitätsprinzip ausschließlich profit- und wachstumsorientierten Industriegesellschaft einschließt als der sie rational verdammende Marxismus. Dennoch sah Bataille 1949 als einen möglichen Ausweg sich abzeichnen, daß es der Stalinschen Industrialisierung gelingen könnte, nach Überwindung der materiellen Not eine bedarfsorientierte Produktion zu ermöglichen, die der Selbstverwirklichung des Menschen dienen würde. Einen Ausweg für die westliche Welt sah er in einer bedingungs- und kostenlosen Wirtschaftshilfe der reichen Länder an die armen, wie sie seinerzeit der Marshallplan zu eröffnen schien. Von beiden Lösungen sind wir heute weiter denn je entfernt. Dagegen weiß jetzt jedermann, daß der Produktions- und Wachstumswahn der Industriegesellschaften zu den größten Verschwendungskatastrophen der Geschichte und zur Ausplünderung des Planeten geführt hat und daß letztlich auch der Hunger der Weltbevölkerung außerhalb der industrialisierten Enklaven durch eben jene Ausplünderung verschuldet ist. Denn durch Raubbau verursachte Katastrophen sind nach Bataille das Gegenteil von souveränen Verschwendungsorgien.

Einen praktischen Ausweg aus dieser Situation kann das Werk von Georges Bataille also nicht weisen, wohl aber kann es zu einer Aufklärung anthropologischer Grundstrukturen anregen, deren fortschreitende Verkennung – für deren Ursache eine Untersuchung noch aussteht – zu dem globalen Dilemma geführt hat.

Man mache einmal folgendes Experiment: Überall, wo das Wort „Vernunft“ oder „Rationalität“ auftaucht, ersetze man es durch das Wort „Rentabilitätsprinzip“. Wer bei diesem Experiment erschrickt, den dürfte sein Erschrecken für das Werk Batailles empfänglich machen. “

Quelle: https://www.zeit.de/1977/11/philosoph-der-verschwendung/komplettansicht